- Tsunamis: Physikalische Ursachen und Auswirkungen eines extremen Naturereignisses
- Tsunamis: Physikalische Ursachen und Auswirkungen eines extremen NaturereignissesTsunamis sind die spektakulärsten Vertreter einer Gruppe von Wellenphänomenen, die man Solitonen nennt und die sich aufgrund von nichtlinearen Effekten praktisch dispersionsfrei fortbewegen, also ohne auseinander zu laufen. Sie werden verursacht von geologischen Prozessen wie Erdbeben, Vulkanausbrüchen oder auch Erdrutschen. Tsunamis pflanzen sich auf dem offenen Meer mit der Geschwindigkeit eines Düsenjets fort. Ihre Wellenhöhe ist dort gering, die Wellenlänge, gemessen von Kamm zu Kamm, dagegen mit 10—100 Kilometern sehr groß, auch im Vergleich zur Meerestiefe. In Küstennähe reduziert sich mit abnehmender Wassertiefe die Ausbreitungsgeschwindigkeit, gleichzeitig wachsen die Wellenberge auf Höhen von 15—30 Meter an. Schon in vorhistorischer Zeit ist beim Vulkanausbruch auf der Ägäisinsel Santorin (etwa 1600 v. Chr.) eine Tsunami-Katastrophe belegt. Seit der Römerzeit kennt man viele historische Berichte von Überschwemmungen, die von Tsunamis hervorgerufen werden. Eine der größten Katastrophen trat beim Ausbruch des Krakatau 1883 auf. Es gibt im pazifischen Raum Vorwarnsysteme, allerdings ist die Zahl der Fehlalarme noch recht hoch.Solitonen tauchen in vielen Gebieten der Physik auf, etwa in der Elementarteilchenphysik. Auch in der Informationstechnik spielen Solitonen eine Rolle; hier versucht man, mithilfe von Lichtwellen, die wie Tsunamis nicht auseinander fließen, die Datenübertragungsrate in Glasfasern um ein Vielfaches zu erhöhen.Wellen, die nicht auseinander laufenJeder kennt die Meeresbrandung — Wellen an der Meeresoberfläche, die in flachem Wasser zunächst höher werden, dann unter Entwicklung von mehr oder weniger großem Getöse und mit schäumender Gischt brechen und schließlich am Strand auslaufen. Die Physik dieser Wellen ist alles andere als einfach und im Detail noch nicht völlig aufgeklärt. Man weiß aber immerhin, dass die an der Meeresoberfläche befindlichen Wassermoleküle eine kreisförmige Bewegung ausführen und dabei benachbarte Moleküle zu einer ebensolchen Bewegung zwingen — die Welle transportiert also kein Wasser, sondern nur diesen Bewegungszustand und damit Energie. Normalerweise laufen Wasserwellen — wie auch (fast) alle anderen Wellen — mit der Zeit auseinander: Die Wellenkämme werden niedriger und gleichzeitig breiter. Man kann dies gut an einem ins Wasser geworfenen Stein oder einem vorbeifahrenden Schiff beobachten. Physikalisch nennt man dieses Phänomen Dispersion. Um es zu verstehen, muss man wissen, dass jede beliebig geformte Welle als eine Überlagerung von sehr vielen sinusförmigen Teilwellen mit jeweils unterschiedlicher Wellenlänge aufgefasst werden kann. Die Geschwindigkeit, mit der eine Welle durch ihr Ausbreitungsmedium läuft, ist aber für jede Wellenlänge leicht verschieden, sodass vereinfacht gesprochen die anfangs alle im Gleichtakt schwingenden Teilwellen nach und nach »außer Tritt« geraten und sich gegenseitig auslöschen. Hinzu kommt, dass die einzelnen Teilwellen auch unterschiedlich stark gebeugt (durch Hindernisse abgelenkt) werden. Daher haben Wasserwellen genau wie Schallwellen oder die von einer Glühlampe ausgesandten Lichtwellen nur eine begrenzte Reichweite.Doch diese Regel hat eine (folgenschwere) Ausnahme: Es gibt Wellen, die nicht auseinander laufen, sondern ihre Form im Prinzip unbegrenzt beibehalten und damit von der Dispersion scheinbar nicht betroffen sind; man nennt sie Solitonen. In manchen Eigenschaften ähneln diese Wellen eher einem Teilchen als einer Welle. Sie spielen in vielen Gebieten der modernen Physik eine Rolle, insbesondere in der Elementarteilchenphysik, wo sie sich als Lösungen bestimmter Differenzialgleichungen ergeben. Wird eine solitonische Wasserwelle etwa von einem Seebeben erzeugt, so kann sie mit großer Geschwindigkeit über den gesamten Ozean laufen und an der gegenüberliegenden Küste fast die gesamte beim Beben freigesetzte Energie deponieren.Entstehung und Ausbreitung von TsunamisDer japanische Ausdruck »tsu nami« bedeutete ursprünglich »(lange) Welle im Hafen«. Inzwischen steht er allgemein für solitonische Wellen, die nach ihrem viele Tausend Kilometer langen Weg über den Ozean an der Küste bis zu 30 Meter hoch werden und vor allem in Häfen und Hafenstädten katastrophale Schäden anrichten können. Obwohl dieses Phänomen nicht nur an der japanischen Küste, sondern überall — vor allem rings um den Pazifik — auftritt, hat sich die japanische Bezeichnung international eingebürgert.NichtlinearitätSchon 1834 wurde die scheinbare Aufhebung der Dispersion bei einer Wasserwelle in einem englischen Kanal beschrieben. Es dauerte aber bis in das 20. Jahrhundert, bis man die Ursache dieses seltsamen Phänomens verstand und erkannte, dass auch die weit spektakuläreren Tsunamis demselben Mechanismus unterliegen. Der Schlüssel zum Verständnis liegt in der Nichtlinearität von Flachwasserwellen. Dies sind Wellen, in denen — anders als bei windgetriebenen Oberflächenwellen im offenen Meer — die gesamte Wassersäule bis zum Grund beteiligt ist. Dabei kommt es aufgrund der Reibung am Boden zu nichtlinearen Effekten, also solchen, die sich nicht mit linearen Gleichungen (Geradengleichungen) beschreiben lassen. Nichtlinearitäten bewirken bei Flachwasserwellen unter anderem ein Aufsteilen und schließlich auch das Brechen der Welle. Unter bestimmten Bedingungen können sich das Abflachen der Wellenkämme aufgrund der Dispersion und das Aufsteilen aufgrund von Nichtlinearitäten gerade aufheben: Die Welle behält dann ihre Form und läuft nicht auseinander. Genau dies ist bei Solitonen der Fall.Flachwasserwellen im Ozean?Eine berechtigte Frage ist, wie es im mehrere Tausend Meter tiefen Ozean Flachwasserwellen geben kann. Dies ist möglich, da »flach« in diesem Falle relativ ist: Es kommt nicht auf die absolute Wassertiefe an, sondern auf das Verhältnis von Wassertiefe und Wellenlänge, das heißt den Abstand zweier aufeinander folgender Wellenkämme. Und da die Wellenlänge von Tsunamis bei 10—100 Kilometern liegt (gegenüber rund 400 Metern bei gewöhnlichen Wellen), ist dieses Verhältnis bei ihnen immer eine kleine Zahl und somit der Ozean für sie ein »Flachwasserbecken«. Physikalisch bedeutet dies, dass bei Tsunamis der gesamte Wasserkörper des Ozeans bis zum Meeresgrund mitschwingt. Daher werden Tsunamis auch von unterseeischen Gebirgen und anderen topographischen Gegebenheiten beeinflusst. Dies hat zur Folge, dass bestimmte Küsten besonders häufig von Tsunamis heimgesucht werden, da die Wellen immer wieder in deren Richtung abgelenkt werden. Ein solcher von einer »Wellenfalle« bedrohter Ort ist Hilo, die Hauptstadt der Insel Hawaii.Wie entstehen die gigantischen Wellenberge?Wird ein Tsunami von einem Seebeben, einem Erdrutsch oder einem Vulkanausbruch ausgelöst, so hat er zunächst eine Amplitude, also Kammhöhe, von nur etwa einem Meter. Bei einer Wellenlänge von 100 Kilometern bedeutet das eine Steigung von einem Tausendstel Prozent — ein Schiff würde also einen vorbeiziehenden Tsunami überhaupt nicht bemerken! Die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Welle ist mit etwa 600—800 Kilometern pro Stunde sehr hoch, dies sind etwa drei Viertel der Reisegeschwindigkeit eines modernen Passagierjets. Bei dieser Geschwindigkeit benötigt ein Tsunami für die Querung des Pazifiks von den Philippinen nach Mexiko weniger als einen Tag, von der Ägäis bis an die Küsten des östlichen Mittelmeers eine halbe bis zwei Stunden. Zum Vergleich: Eine »gewöhnliche« Welle ist rund 90 km/h schnell.Nähert sich ein Tsunami der Küste, so sinkt seine Geschwindigkeit aufgrund der sich verringernden Wassertiefe stark ab. Aus Gründen der Energieerhaltung wächst dabei die Höhe der Wellenberge um ein Vielfaches, auf 15—30 Meter und mehr. Oft kommt dabei an der Küste zuerst ein Wellental an — das Meer scheint sich plötzlich und meist ohne Vorwarnung vom Strand zurückzuziehen, manchmal kilometerweit. Tödliche Neugier wäre es, dem zurückfließenden Wasser hinterherzugehen, denn die gigantische Flutwelle des nächsten Wellenberges steht nun unmittelbar bevor. Genau dies ist aber offensichtlich 1998 bei der letzten verheerenden Tsunami-Katastrophe in Papua-Neuguinea geschehen: Etliche Menschen ertranken, als sie, ohne es zu ahnen, der heranrasenden Flutwelle entgegengingen, insgesamt gab es 2 500 Tote.WarnsystemeBei einer Wellenhöhe von 30 Metern haben Menschen im Küstenbereich nur sehr geringe Überlebenschancen. Das einzige Mittel gegen Tsunamis ist daher die rechtzeitige Evakuierung, wozu man ein zuverlässiges Vorwarnsystem braucht. Wegen der hohen Ausbreitungsgeschwindigkeit bleiben allerdings meist nur wenige Stunden zwischen der seismographischen Entdeckung und dem Eintreffen des Tsunami, in denen seine Bahn zuverlässig bestimmt und die betroffene Bevölkerung informiert und evakuiert werden muss. Dies ist nur möglich durch kontinuierliche seismische Beobachtungen, Hochleistungsrechner und präzise Alarmierungs- und Fluchtpläne. Für den Pazifik existiert bereits ein solches System (die Zentrale befindet sich in Honolulu) und es werden Anstrengungen unternommen, auch anderswo die Rettungssysteme zu verbessern. Jedoch sind gerade in armen Ländern mit generell schwacher Informations- und Verkehrsinfrastruktur nach wie vor große Katastrophen durch die gigantischen Flutwellen zu befürchten. Ein weiteres Problem in diesem Zusammenhang bilden die enormen Kosten, die auf falsche Tsunami-Warnungen zurückgehen: Etwa 75 % aller seit 1948 ausgesprochenen Warnungen waren »blinder Alarm«. Vor allem aber führt häufiger Fehlalarm dazu, dass Warnungen vor tatsächlichen Flutkatastrophen nicht ernst genommen werden, wie 1960 auf der Insel Hawaii nach einem Beben in Chile geschehen.Zurzeit leben einige Hundert Millionen Menschen in potenziell tsunamigefährdeten Gebieten. Regionale Vorhersagezentren gibt es in Alaska, Chile, Japan, Französisch-Polynesien und Russland.Historische Tsunami-KatastrophenEine der ersten bekannten Überschwemmungskatastrophen wird mit dem Ausbruch des Vulkans auf der Kykladeninsel Santorin in der südlichen Ägäis etwa 1600 v. Chr. in Verbindung gebracht. Die dabei entstandene Flutwelle überschwemmte die Nordküste Kretas und zerstörte den Hafen der minoischen Hauptstadt Knossos, eventuell auch die Hauptstadt selbst. Auch in Ägypten und am Ostufer des Mittelmeers sowie in Kleinasien lassen sich Auswirkungen der Flutwelle geologisch nachweisen. Ebenso zeigen Proben vom Meeresgrund, dass durch den Tsunami der sonst ruhige Grund des östlichen Mittelmeers metertief aufgewühlt wurde. Allerdings hat sich die Vermutung, dass der Untergang der minoischen Kultur von Vulkanausbruch und Flutwelle verursacht wurde, als falsch erwiesen — die minoische Kultur ging nach heutigen Erkenntnissen erst gut 200 Jahre später zugrunde. Allerdings könnte es durch die Ereignisse zu einer verstärkten Einwanderung und damit kulturellem Einfluss von Minoern auf Ägypten gekommen sein. Es gibt Vermutungen, dass weitere vorhistorische Tsunamis sowohl die biblische Erzählung von der Sintflut als auch die von der Wanderung durch das Rote Meer bei der Flucht aus Ägypten inspiriert haben.Die früheste schriftliche Erwähnung eines Tsunami datiert aus dem Jahr 479 v. Chr., wo von verheerenden Schäden in der nördlichen Ägäis berichtet wird. Im Jahr 365 n. Chr. kam es im Nildelta zu einem weiteren, unter anderem von dem römischen Geschichtsschreiber Ammianus Marcellinus und dem Kirchenvater Hieronymus beschriebenen Tsunami. Die Ursache war vermutlich ein Seebeben. Im Jahr 1703 berichtet die japanische Geschichtsschreibung von 100 000 Ertrunkenen, und das Erdbeben in Lissabon im Jahr 1755 forderte 70 000 Tote, von denen die meisten ertranken, als drei Flutberge nacheinander die Mündung des Tejo heimsuchten. Ausläufer dieses Tsunami wurden auch in Cádiz, Madeira, Holland, England, den Azoren und sogar auf den Kleinen Antillen auf der anderen Seite des Atlantiks gesehen. Beim Ausbruch des Vulkans Krakatau in der Meerenge zwischen Sumatra und Java, der noch in weiten Teilen des Indischen Ozeans, Südindien und Westaustralien zu hören war (!), wurden äußerst heftige Tsunamis ausgelöst. Die erste Flutwelle erreichte stellenweise 30—40 Meter Höhe. Die gigantische Woge spülte Schiffe mehrere Kilometer weit an Land und richtete in den weiten flachen Küstengebieten Indonesiens schwerste Schäden an. Damals kamen 36 000 Menschen um, die meisten von ihnen ertranken.Im Schnitt kommt es auf der Erde einmal jährlich zu mehr oder weniger katastrophalen Tsunami-Ereignissen. In den 1990er-Jahren machten drei Tsunamis, die zwischen September 1992 und Juli 1993 Nicaragua, Indonesien und Japan betrafen, Schlagzeilen; im Februar 1996 und am 17. Juli 1998 traten zwei Ereignisse in Papua-Neuguinea auf. Bei dieser 15 Meter hohen Flutwelle wurden rund 2 500 Menschen in den Tod gerissen.»Tsunamis« in der GlasfaserEine wesentlich unspektakulärere Anwendung von dispersionsfreien Wellen wird derzeit in der Informationstechnik entwickelt. Dort arbeitet man seit längerem mit Lichtwellen, die in hauchdünnen Glasfasern Signale weiterleiten; ISDN und viele Verbindungen des Internets nutzen diese Technologie. Doch wie alle Wellen laufen auch diese Signale mit der Zeit auseinander. Auch wenn dies derzeit nur etwa alle 100 Kilometer eine Signalverstärkung nötig macht, ist dies für stark frequentierte und weit reichende Verbindungen wie die Transatlantikroute von Nachteil. Physikern ist es nun gelungen, Licht-»Tsunamis« in Glasfasern laufen zu lassen, bei denen wie bei solitonischen Meereswellen Nichtlinearität und Dispersion einander in der Wirkung aufheben. Möglicherweise werden sie schon in wenigen Jahren bei der Datenübertragung eine wichtige Rolle spielen und die Übertragungsraten für Telekommunikation, TV und Internet um ein Vielfaches steigern können — damit hätte sich der Mensch erstmals die ungehemmte Ausbreitung dieser Wellen zunutze gemacht!Heinz Klug: Flutwellen u. Risiken der Küste. Stuttgart 1986.Walter L. Friedrich: Feuer im Meer. Vulkanismus und die Naturgeschichte der Insel Santorin. Heidelberg 1994.Tsunamis 1992—1994, herausgegeben von Kenji Satake und Fumihiko Imamura. Basel 1995.
Universal-Lexikon. 2012.